Die Sujets von Jurek Rothas Bildern sind alles andere als spektakulär. Jüngere gegenständliche Malerei hat die heruntergekommenen Industrieareale schon erfolgreich abgegrast. Verwüstete Räume, zerfledderte Fassaden und hinterlassener Müll sind wiederholt gemalt und fotografiert worden. Gleichwohl lassen die Bilder, mit denen Jurek Rotha erstmals in der Leipziger Öffentlichkeit auftritt, erstaunt aufblicken: Was für ein Maler!
Vermutlich geht es ihm zum Beispiel in „Kulisse“ gar nicht um den olivgrau-weißlich verschmutzten Fußboden, sondern um dessen gesprenkelte Textur, süffig wie ein Segantini. Nicht die real von den Wänden herabrollenden Farb- und Tapetenbahnen interessieren den Maler. Er vermalt sie zu quellenden Farbwolken, in denen Masken erscheinen und rechts eine ‚Küstelinie’. Die Formen wabern nicht vor sich hin, sondern suggerieren Ahnungen figurativer ‚Bewegung’. Dort tobt keine ‚Dämonenschlacht’, das Bild bleibt vor der begrifflichen Präzision, es bleibt davor und zwischen den Begriffen.
Das Bild „Kulisse“ darf man als einen Entwurf über die ‚Konstruktion des Sehens’ oder die ‚Heimtücke der Mimesis’ verstehen. Der Blick wird über eine Fußbodenfläche, die offenbar ein Drittel des Hochformats ausmacht, in einen Raum geführt. Dieser Raum wird von der Wand mit dem oben dunklen Braun- und Rottönen begrenzt. Davor aber steht ein schnell als Bild im Bild zu erkennendes Breitformat wie als heller Durchblick durch die Wand. Das Bild im Bild scheint in die Tiefe eines Himmels über einem Gebirgszug (der aber auch einen liegendes Tier abgibt) zu führen.
Einmal auf die Fährte verschiedener Horizonte, Perspektiven und Räume gelockt, bemerkt man ausgehend von der ‚Gebirgslandschaft’, dass sie und die Wand insgesamt in rechteckige Bildzonen aufgeteilt sind, teilweise klar abgegrenzt, aber auch wie an einaner ‚genäht’. Wir sehen also ein aus Einzelteilen zusammengesetztes größeres Bild, das sich in Nah- und Fernsicht jeweils anders darstellt. Raumwechsel, Fläche und Durchblick werden vom Blickwechsel als kartographischer Draufblick rechts ergänzt. Die Nahsicht korrigiert zum Beispiel den ‚Himmelsdurchblick’, denn sie offenbart einzelne Schemen statt des luftigen Zusammenklangs.
Schließlich erweist sich auch der Vordergrund als unsicher. Ist der Raum, in den wir durch die ‚Segantini-Fläche’ gelockt werden, nicht eigentlich kürzer als zunächst gedacht? Eine merkwürdig gerade horizontale weiß-grüne Linie zieht sich von rechts nach links auf Punkt, wo als linker Bildrand eine rahmenden Holzlatte beginnt. Dort schon, an einer linken unteren Ecke, könnte die hintere Begrenzung des Raumes beginnen, und zwar als gemaltes Bild. Der Maler möchte es verunklaren, links hat er Vordergrund im Raum und Vordergrund im Bild relativ ähnlich belassen, sie gehen ineinander über. Hat man sich allerdings auf diese Version eingesehen, wird man sie nicht mehr los – und versteht auch die anderen Holzlatten und -pfosten in dem Gemälde.
Was ist ‚real’, was ist ‚wiedergegeben? Das Bild lockt kunstfertig an einen ‚realistischen’ Eindruck und spielt die Wahrnehmung aus. Was entscheidet über die Anmutung eines Bildes: die pauschale Raumsuggestion oder die Ordnung linearer Indizien? Auf welcher Ebene des Sehens befinden wir uns gerade?
Auch andere Bilder von Jurek Rotha sind durchaus hintersinnig, wenngleich nicht direkt auf mimetische Prinzipien hin auszubeuten. Er liebt es, den funktionslosen Aggregaten in den Ruinen ein neues Leben einzuhauchen. Ähnlich hatte sich die Fotografin Kerstin Flake vor einigen Jahren den alten (Wohn-) Räumen genähert. Das stärkste Mittel Jurek Rothas dafür ist, wie er die Malerei ‚in Bewegung’ versetzt oder behält. Das heißt, er schiebt, was er bild-begrifflich anbietet, ausgehend von der Suggestion als ‚real’, ein wenig hin und her und weg ins Überreale oder sonstige Unwirkliche. Das kann durch ‚Anschmelzen’ oder anderes Umformen erfolgen, durch Dimensionswechsel, durch Kombination. Es ist immer malerisch und es gelingen spektuakuläre Lösungen. Die Bildern geben sich zwar ‚seriös realistisch’, doch sie steigen aus den geronnenen, konventionell verbindlichen Begriffen aus, sie werden visuell lebhaft.
Dann sind Abwesende doch anwesend, wie in einem hohen Raum wie von Johannes Rochhausen gemalt – nur mittlerweile aufgegeben und geplündert („Spint 28“). Dann lösen sich Details aus dem Verbund und wollen einen eigenen Zug durch die Regale beginnen („Quelle“). Eine Maschine wird zum futuristischen Godzilla inmitten einer Produktionshalle aus dem mechanischen Zeitalter („Kraftwerk“). Oder ein Zug demolierter Gestänge, Lampen- und Lampenfassungen tanzt, getragen durch das feine Licht, das durchs Fenster fällt, quer durch die verwüstete Etage. Schon das Fenster in diesem grandiosen Bild („polygraph“) ist, durchaus vor der Tradition (von zum Beispiel Karl Hofer und Max Beckmann bis Wolfgang Mattheuer und Ingolf Schelhorn), ein Ereignis.
Welche Rolle spielen nun die ‚verkommenden Sujets’ dabei? Sie verschwinden nicht, sind Anlässe sogar kunstfertiger Verwandlung und faszinieren mit vermeintlich fotografischer Präsenz. Gewiss gilt wieder einmal (wie beim berühmten Spargel Édouard Manets), dass das geringste aller Sujets oder der geringste der Orte vollkommen genügt, um ein faszinierendes Bild davon zu machen. Davon und von ihm aus, versteht sich.
Leipzig, 29.05.2017